trasher hat geschrieben:[...]
Ich antworte der Reihe nach, obwohl ich eins viel beachtlicher finde als alles andere:
1. Natürlich sind manche Leute in ihrem täglichen Leben mehr betroffen als andere, mein Punkt war aber auch, dass die meisten Leute kaum bis so gut wie gar nicht tangiert sind. Natürlich gibt es einzelne Leute, die ihren Arbeitsplatz deshalb verlieren wie dein Bekannter, aber es gibt auch Leute (und nicht zu wenige) deren Arbeitsplätze überhaupt erst durch diesen Flüchtlingsstrom geschaffen wurden. Es ging lediglich darum klarzumachen, dass gegenwärtige (!) tatsächliche Erfahrungswerte (vulgo "beeinträchtigte Lebensqualität") mit den Flüchtlingen kein wichtiger Punkt dafür sind, warum sich die Stimmung gedreht hat.
2. Was daran direkt anschließt ist die Tatsache, dass ich relativ klar zwei unterschiedliche Arten von Opposition gegen Merkels Flüchtlingspolitik sehe. Die erste Art ist die Fundamentalopposition, die von Anfang an lieber auf Abschottung und Anreizsenkung gesetzt hätte (Vergleichsland: Irgendwo zwischen Dänemark und Ungarn) und die zweite Art ist die derjenigen, die mit der Zeit das Vertrauen in Merkel verloren haben.
Vielleicht hältst DU die Feststellung, dass die Kosten für Flüchtlinge nicht direkt für andere Zwecke ausgegeben worden wären, für banal, aber für die erste Gruppe ist sie das absolut nicht, ganz im Gegenteil: Die Behauptung, dass für Belange von Deutschen kein Geld da sei ist DAS am häufigsten geäußerte Argument dieser Gruppe. Dementsprechend ist es schon ziemlich wichtig, auf die Zahlen zu schauen, wenn man sich fragt ob Deutschland sich das leisten kann. Mit Schlagzeilen wie "13.000€ für jeden Flüchtling" lässt sich bei entsprechendem Wunsch ja relativ leicht suggerieren, dass in Deutschland für Flüchtlinge
mehr getan wird als für Deutsche, weil viele Leute in ihrem alltäglichen Leben nicht sehen, wo der Staat für sie so viel Geld ausgibt. Die Wahrheit ist natürlich, dass staatliche Umverteilung in Deutschland in einer viel höheren Größenordnung dem größeren Teil der Bevölkerung zugute kommt; man muss bei den Einkommensperzentilen schon recht weit nach oben gehen, bevor man Leute findet, die vom Staat nicht mehr rausbekommen als sie einbezahlen. Gerade dort, wo die erste Gruppe besonders stark ist, dürften Nettozahler noch deutlich seltener sein.
Das entwertet natürlich nicht das Argument, aber man sollte sich schon fragen, ob da nicht völlig falsche Vorstellungen davon projiziert werden, was ohne großzügige Flüchtlingspolitik an sozialen Wohltaten möglich wäre. Und die Problematik, um die man beim Thema "Ausländer" nicht herumkommt, ist und bleibt folgendes: Warum befinden sich unter dieser ersten Gruppe WEIT überdurchschnittlich politisch enttäuschte und gesellschaftlich abgehängte? Ich will ganz deutlich sagen, dass ich nicht ALLE sage, weil ich durchaus weiß, dass es eben nicht alle sind, aber es sind eine Menge. Vielleicht gibt es ein paar Leute, die ernsthaft glauben, ausgerechnet diese Leute sind besonders perzeptiv und können Gefahren hervorragend einschätzen; viel wahrscheinlicher erscheint mir allerdings, dass diese Leute lediglich ihre Probleme auf Flüchtlinge projizieren, ganz egal wie viel oder wenig diese mit ihren Problemen wirklich zu tun haben, wie wir es in anderen Ländern auch sehen (bspw. Großbritannien mit dem Zuzug aus Osteuropa). Insofern würde ich mich davor hüten, mir für die Qualität unseres politischen Diskurses zu viel davon zu versprechen, den Flüchtlingsstrom von heute auf morgen komplett zum versiegen zu bringen: Im besten Fall müssten diese Leute dann erkennen, dass ihr eigentliches Problem nicht wirklich Flüchtlinge sind und würden zu ihrer Apathie zurückkehren.
3. Was die zweite Gruppe angeht: Diese Leute kommen in der Diskussion über dieses Thema häufig ein wenig kurz. Es wird gerne so getan, als wäre die Politik schon lange weit entfernt davon, was die Bürger wollten, aber das war eben gerade nicht der Fall. Wer sich den Deutschlandtrend anschaut, sieht eher einen stetigen Abfall: Angela Merkel hatte Mitte letzten Jahres noch großen Kredit, der sukzessiv abgeschliffen wurde, bis gegen Ende des Jahres mit sinkenden Flüchtlingszahlen und Terroranschlag in Paris die Zufriedenheit wieder zunahm, um dann nach Bekanntwerden der Vorfälle in Köln weiter zu sinken. Der Anteil der Bevölkerung, der politisch am stärksten Gewicht hat, weil er am ehesten wählt (höher Gebildete im weitesten Sinn [Abitur]), hat regelmäßig am wenigsten Bedenken. Nur weil HEUTE eine Mehrheit der Leute die Flüchtlingspolitik von Merkel ablehnt, heißt das nicht, dass sie schon vor sechs Monaten die Grenzen hätte schließen müssen.
Diese ganzen Verweise auf die Zukunft sind völlig nutzlos, weil sie ein viel zu simples und statisches Bild von der Lage zeichnen (was du seltsamerweise an einer Stelle selbst relativierst). Es ist naiv zu glauben, Angela Merkel hat diese Geschichte an einem Tag im September 2015 entschieden und das ist jetzt die Weichenstellung bis zu dem Tag, an dem der Flüchtlingsstrom versiegt. Was die Grenzen heute noch offen hält sind nicht Merkels "Wir schaffen das" oder Selfies mit Flüchtlingen, sondern die Tatsache, dass es keine schnelle unilaterale Lösung gibt, die ohne gravierende Nachteile ist. Implizit hat Merkel allerdings bereits gesagt, dass es auch eine Lösung MIT gravierenden Nachteilen tun wird, falls die Flüchtlingszahlen wieder ansteigen. Deshalb sehe ich es auch nicht als wahnsinnig gravierend an, dass die zweite Gruppe Merkels Flüchtlingspolitik so stark ablehnt: Es ist sehr einfach, in Umfragen zu sagen, dass man gegen sie ist. Diese Leute müssen sich allerdings auch keine Gedanken darüber machen, womit sie sie ersetzen würden. Das ist das eigentlich Neue an dieser Krise und vermutlich auch das, weshalb so viele Leute ein vermeintliches Versagen der Demokratie erkennen: Normalerweise decken die Parteien zu bestimmten Fragen die gängigen Lösungsansätze ab. In diesem Fall ist es aber so, dass alle Parteien mehr oder weniger ratlos sind, weil sich die Frage kaum in Deutschland lösen lässt. Deshalb auch die dümmliche Aussage von Frauke Petry, die sie jetzt wieder relativieren musste: Man will den Leuten mit der Hundepfeife suggerieren, dass im Zweifelsfall keine Mittel gescheut werden, um die deutsche Grenze zu verteidigen. Damit verlagert man das Problem aber nur auf die anderen Staaten, was auch große Probleme für Deutschland bedeuten würde, nur dass die Probleme dann vielleicht etwas kleiner und indirekt wären, aber eben immer noch groß.
4. Die eine Sorge, die ich um die politische Kultur habe ist im Grunde genommen, dass wir in Richtung der USA abdriften, wo sich die eine Seite völlig abgekapselt hat und mittlerweile beide Seiten dazu übergegangen sind, die eigene Identität in Opposition zur anderen Seite zu definieren. Allerdings leisten die Medien dem glücklicherweise keinen Vorschub und die Zahl derjenigen, die im Zweifelsfall auf die Realität pfeifen, ist doch nicht allzu groß. Allerdings gibt es mir zu denken, wie du Behauptungen wie "Integration ist gescheitert" en passant tätigst, als ob das in irgendeiner Form gesellschaftlicher Konsens ist und nicht eine höchst subjektive Behauptung, die im Grunde genommen jeglicher Grundlage entfernt, weil wir als Land uns die verbindlich darauf geeinigt haben, was wir uns unter erfolgreicher Integration eigentlich vorstellen. Ähnliches gilt auch für "Hauptprofiteur dieser Situation sind die USA", "die Antifa hat die GIDAs in Westdeutschland verhindert", "Zahlen von deutschen Statistikinstituten ist nicht zu glauben" oder [hier alles einfügen was MAR so von sich gibt].
5. Was die Frage des europäischen Zusammenhalts angeht: Das erscheint mir in sich nicht sehr kohärent. Wenn Amerika keine Freunde hat, nur Interessen, ist es dann nicht für die europäischen Länder auch so? Im Grunde genommen beweist uns die Geschichte der EU ja, dass es so ist, von Britenrabatt über Euro-Bailout bis hin zu der jetzigen Flüchtlingskrise. Gleichzeitig muss man sich dann aber um so etwas wie den "europäischen Zusammenhalt" keine Sorgen machen: Er basierte ja sowieso nur auf Interessen und sobald sich die Interessen wieder besser in Einklang bringen lassen, sieht die ganze Sache wieder rosiger aus.
€dit:
UliSchleicher hat geschrieben:Das Ganze ist im März 2015 in Kabul passiert, also noch nicht mal ein Jahr her.
Hat aber bestimmt nichts mit dem Islam zu tun.
Außer darauf hinzuweisen, dass Angela Merkel immer noch Kanzlerin ist und du hier eigentlich nicht mehr reinschauen wolltest, würde ich dich auch gerne fragen, ob du auch glaubst, dass in der Paralleldimension, in der das Internet 80 Jahre schneller aufgebaut wurde, dein englischer Urgroßonkel Bilder von befreiten KZ postet und darunter "Hat bestimmt nichts mit dem Deuschtum zu tun" postet? Jolly good.