David Foster Wallace - Infinite Jest
Seit langer Zeit mal wieder ein Roman. Infinite Jest ist einer von nur zwei Romanen, die DFW vollendet hat und der einzige, mit dem er zufrieden war. Wallaces Reputation als einer der talentiertesten Autoren seiner Generation stützt sich im wesentlichen auf Infinite Jest und man könnte es als sein "Hauptwerk" bezeichnen. Der Haupttext alleine hat fast 1000 Seiten und dazu kommen nochmal knapp 100 Seiten Fußnoten, die bei Wallace nicht die gewohnte Funktion haben.
Ich hatte Infinite Jest schonmal mit 18 gelesen und wollte es schon eine Weile nochmal lesen, einerseits weil Wallace selbst sagte, es ist eigentlich ein Roman den man zweimal lesen muss, um ihn komplett zu verstehen (angesichts der Länge war er sich bewusst, dass man das als Anmaßung bzw. Zumutung verstehen kann) und andererseits weil Wallace, der zeitlebens an Depressionen litt und medikamentös behandelt werden musste, sich letztes Jahr mit 46 Jahren umgebracht hat.
Infinite Jest ist auf mehrere Arten ein sehr eigenartiger Roman. Die Handlung spielt in der nahen Zukunft, ohne dass das wirklich einen Einfluss auf die Handlung hat. Die Erzählperspektive wechselt mehrfach und ist ungewohnt, weil sie einerseits bis kurz vor Schluss nicht aus der Perspektive eines Charakters erzählt wird, andererseits jedoch von dem Charakter selbst "eingefärbt" ist. Wallace schreibt teilweise im Stil der verschiedenen Idiolekte, verzichtet gleichzeitig aber auch nicht auf erzählerische Einwürfe, die nicht von den Charaktern selbst stammen.
Es gibt fünf oder sechs Handlungsstränge und genug Charaktere, um den Roman zu einer Herausforderung zu machen. Die Fußnoten unterbrechen den Lesefluss und es gibt Einschübe, die nahezu unlesbar sind. Man kann nie ganz sicher sein, ob Wallace manchmal Wörter benutzt, für die er lange in seinem Wörterbuch suchen musste oder ob sie schlicht erfunden sind.
Auf Kapitel verzichtet Wallace komplett, dafür ist die Handlung in Fragmenten laut Wallace selbst aufgebaut wie ein Sierpinski-Dreieck:
Es zeigt immerhin den Grad der Verwirrung.
Die Geschichte spielt in einer Zukunft, die gesellschaftlich eine zugespitzte Version der Gegenwart ist und in der sich die geopolitischen Umstände geändert haben. Die USA, Kanada und Mexiko gehören zu einem Staatenbund (O.N.A.N.), Neuengland und Teile Quebecs existiert nur noch als toxische Müllkippe für den Abfall der drei Staaten. Der Präsident der USA ist Johnny Gentle, ein ehemaliger Sänger aus dem Kasinogeschäft in Vegas, ein Crooner im Stil eines Frank Sinatra.
Die Gesellschaft ist im wesentlich in sich gekehrt, ein System namens InterLace hat Fernsehsender verdrängt. Man kann sich auf Entertainment-Konsolen über Module und Modems jegliche Unterhaltung liefern lassen und das System ist ubiquitär. Unterhaltung nimmt in der Gesellschaft einen Höchstwert ein, der Alltag ist von ihr durchdrungen. Menschliche Interaktion ist für einen Teil der Gesellschaft stark zurückgegangen. Für ein Buch, das spätestens 1994 (es ist 1996 erschienen) zu großen Teilen fertig war, beschreibt es erstaunlich treffend eine Welt wie das Internet, nur ohne die aktiven Möglichkeiten, die es bietet.
Es gibt keine klassische Zeitrechnung mehr, sondern "Subsidized Time", die Jahre sind alle Werbung für Produkte; der Großteil des Romans spielt im "Year of the Depend Adult Undergarment". Der Drogenkonsum hat vermutlich stark zugenommen, fast alle Hauptcharaktere haben auf irgendeine Art ein Suchtproblem.
Allerdings machen diese Dinge den Roman nicht aus, sie sind eher der Rahmen für die Handlung selbst. Der Roman hat wenig von 1984 oder Fahrenheit 451.
Die drei wichtigsten Handlungsstränge:
1. Die E.T.A., eine Tennisakademie. Hier nimmt Hal Incandenza die Hauptrolle ein. Hal ist ein vielversprechendes Tennistalent und der Sohn des Gründers der Akademie, die nach dessen Selbstmord von seiner Mutter und seinem Onkel geführt wird. Hal ist 17 und teilt sich ein Zimmer mit seinem älteren Bruder Mario. Sein Alltag nimmt den größeren Teil des Buchs ein. Seine Geschichte ist mit den anderen Geschichten über seiner Vater, James Incandenza verbunden. Dieser hat im letzten Drittel seines Lebens bei zahlreichen Kunstfilmen Regie geführt, wovon einer "Infinite Jest" ist.
2. Ennet House, ein Halfway House für Alkohol- und Drogensüchtige. Hier ist die Hauptfigur Don Gately, ein drogensüchtiger Kleinkrimineller, der nach einem verpatzten Einbruch erst seine Drogensucht kuriert und im Laufe der Handlung eine der temporären Aushilfsstellen übernimmt. Später wird als zweite Hauptfigur Joelle van Dyne nach einem Suizidversuch eingeliefert. Joelle war die Freundin von Hals älterem Bruder Orin und die Hauptdarstellerin in den späten Filmen seines Vaters James, unter anderem in "Infinite Jest".
3. Irgendwo in Arizona: Ein Gespräch zwischen Hugh Steeply, Agent der Regierung und Remy Marathe, Widerstandskämpfer. Dieser Handlungsteil ist ein reiner Dialog, der die geopolitischen und philosophischen Hintergründe der Geschichte beleuchtet. Im Groben geht es darum, dass Marathe Mitglied einer Widerstandsgruppe der kanadischen Provinz Quebec ist, die versuchen die USA zu terrorisieren, damit Kanada sich gezwungen sieht, Quebec in die Unabhängigkeit zu entlassen, um der Wut der USA zu entgehen. Ihr Hauptziel ist es, eine "Masterkopie" (kopierbare Kopie) von "Infinite Jest" in die Hände zu bekommen, da der Film laut Steeplys Leuten so unterhaltsam ist, dass er Menschen komplett den Willen zu irgendetwas anderem raubt, als weiter den Film in einer Endlosschleife zu sehen. Man kann das Resultat als katatonisch bezeichnen. Im Laufe des Buches verschiebt sich der Arizona-Strang weg von Steeply und Marathe hin zu Orin Incandenza, der in Phoenix als Footballspieler sein Geld verdient.
Die Handlung zu beschreiben wird dem Buch nicht unbedingt gerecht, denn die Handlung selbst macht nicht den Reiz des Buches aus. Dazu ist sie bewusst viel zu wenig ausgearbeitet und für eine gesellschaftskritische Dystopie auch viel zu abwegig. Infinite Jest ist ein Buch über Gefühle. Selten passt das Wort "Entfremdung" auf irgendetwas richtig, aber hier kann man durchaus davon sprechen. Es geht um Isolation und Einsamkeit und den Versuch, ihr zu entgehen. Das ist, was den Charakter des Buchs ausmacht. Alles ist wunderbar ausgearbeitet, man hat nicht das Gefühl dass Wallace irgendetwas dem Zufall überlassen hat, alles hat seinen Sinn. Ich bin nicht sicher ob Wallace wollte, dass man sich während des Lesens gut fühlt. Aber was er sicherlich wollte und was er auch geschafft hat, ist die Gefühle nachvollziehbar zu machen, die seine Charaktere spüren. Wenn der Maßstab großer Kunst ist, ob sie dazu in der Lage ist, Gefühle in Menschen hervorzurufen, Gefühle zu "zeigen" statt sie abzubilden, hat Wallace hier große Kunst vorgelegt. Große Unterhaltung vielleicht nicht unbedingt, obwohl man auch unterhalten wird, aber das war wahrscheinlich nicht das Ziel. Leider ist die Einleitung von Dave Eggers so furchtbar dick aufgetragen, dass kein Buch ihr wirklich gerecht werden könnte. Aber wenn man die alberneren Passagen aus ihr streicht, kommt DFWs Infinite Jest der Beschreibung nahe.
Falls jemand 50 Stunden Zeit für einen Roman hat, kann ich das Buch nur empfehlen.